Es gab mal eine Zeit, da war es hip, immer zu betonen, dass wir alle sein müssten wie die Kinder. Ich hab das nie verstanden. Und ich fand es unglaubwürdig. Das gaben nämlich gerne Menschen von sich, die im Gespräch aus der Verantwortung gehen. Damit man das aber nicht merkt, wird ein wenig esoterische Verschleierungswatte drumgepackt. Ich dachte mir, das ist im Grunde doch nur eine Ausrede, die wollen nicht sein wie die Kinder, die wollen nur nicht erwachsen werden.
Vor kurzem hatten wir Besuch von einem 9 Monate alten Kind. Der kleine Kerl saß auf dem Schoß seiner Mutter am Tisch und interessierte sich ausgiebig für eine weiß-grün-gestreifte Papierserviette. Die Kindsmutter und ich saßen nebeneinander und unterhielten uns. Wie das dann immer so läuft, nebenbei hat man ein Auge aufs Kind. Man nimmt ihm vorsichtig die Kuchengabel aus der Hand, damit es sich kein Auge aussticht. Mit einem geschickten Dreh verschiebt man im letzten Moment den Kuchenteller, bevor die kleine Hand mitsamt Ärmel in der Sahne landet. Bei der Kaffeetasse ist man dann zu langsam und die Babyflasche kracht scheppernd auf den Unterteller, Tasse springt, Kaffee schwappt, kreative braune Flecken auf der Tischdecke, egal, kann man waschen. Und dann entdeckt der Junge die Serviette. Er schüttelt sie, nimmt sie in den Mund, man zieht sie ihm vorsichtig weg und schiebt ihm geschickt ein kleines Kuscheltier vor die Nase „Schau mal die kleine Maus“. Das Baby lächelt milde und greift sich wieder die Serviette. Serviette wird weggezogen „Schau mal die kleine Maus“. Maus tanzt hin und her und wird dem Kind in die Hand gedrückt. Maus landet auf dem Boden. Zack, die Serviette wird nun mit eiserner Faust festgehalten und gezielt untersucht. Dabei hält sich das Kind das Objekt der Begierde ganz nah vor die Augen, schielt, lacht, schiebt es in den Mund, rupft es auseinander und hält dann das zerzauste Teil stolz in die Höhe.

Ich saß da, die Kuschelmaus in der Hand und hab was kapiert. Der Kleine wußte ganz genau, was er will. Und was für ihn in dem Moment dran war. Ihn hat die Serviette interessiert und zwar so lange bis er sie verstanden hatte. Unsere Störmanöver mit der Maus waren einfach nur Käse. Es ging um die Serviette. Und obwohl ich immer der Meinung war, dass man Kindern Raum für ihre Entwicklung geben muss, habe ich einen klassischen Fehler gemacht. Dieses Aufdrängen einer Alternative, dieses Ablenkmanöver ist ein Übergriff. Dass es gut gemeint war, spielt keine Rolle. Ich habe eingegriffen in die Konzentration des Kindes, hab seinen augenblicklichen Prozess gestört und im Grunde habe ich sein Bedürfnis nicht ernst genommen. „Sieh her, ich weiß, was für dich gut ist. Nimm die Maus, lass die Serviette.“ Ach herrje! Wie oft habe ich mich in meinem eigenen Leben darüber aufgeregt, wenn Andere geglaubt haben, sie wüßten besser als ich, was für mich gut ist.
Der Kleine wußte ganz genau, was es wollte und was für ihn in dem Moment dran war. Und als die Aktion beendet war („Ah, so funktioniert Serviette.“) war der aktuelle Lernprozess abgeschlossen, das Kind zufrieden, Stress vorbei. Man muss die Kinder und ebenso die Erwachsenen nur lassen und sollte nicht ständig mit noch so gut gemeinten Gegenmaßnahmen eingreifen. Sie wissen, was sie brauchen, was sie wollen, was sie gerade lernen wollen. Was die Kleinen noch nicht wissen, ist, wo Gefahren lauern, wo sie sich selbst schaden können. Dafür sollten wir da sein. Zum beschützen. Das hat dann auch eine andere Klarheit und auch eine andere Aussage.
Statt „Lass dies, nimm das, weil ich das so will“ sagen wir dem Kind „Probier du dich aus und ich schau, dass dir nichts passiert.“ So kann das Kind Vertrauen haben. In die eigenen Fähigkeiten. Und in die Menschen, die es lieben.
Fazit, wir können die Kinder einfach werden lassen und müssen zunächst nicht mehr tun als sie lieben und beschützen. Wir können und sollen ihnen auch Möglichkeiten anbieten, aber entscheiden sollte das Kind dürfen.
Und “sein wie die Kinder”, hab ich mir noch gedacht, könnte heißen, das tun, wozu der innere Impuls uns führt. Dran bleiben an dem, was unsere Aufmerksamkeit weckt bis wir es verstanden und verinnerlicht haben.

Mach, was Du willst und mach, was Du brauchst. Alternative Kuschelmäuse darfst Du dankend ablehnen.