Selbsterkenntnis? Das habe ich lange nicht verstanden. Was heißt „Erkenne dich selbst“.  Als würde man sich selbst nicht kennen. Stimmt aber leider. Manchmal weiß man erschreckend wenig – auch über sich selbst. Und was macht man mit dieser Selbsterkenntnis, wenn sie sich scheibchenweise einstellt oder einen wie der Blitz trifft? Dann fängt die Arbeit erst so richtig an. Die Arbeit an dem Weg zu diesem Selbst, das man da erkannt hat. Und warum? Weil man jahre- vielleicht jahrzehntelang damit beschäftigt war, ein Bild von sich aufzubauen, das Anderen gefällt. Ein Bild, das es uns ermöglicht hat als Arbeitnehmer*in, Schüler*in, Partner*in oder Familienmitglied zu funktionieren. Ein Bild, das wir wie ein Schutzschild vor uns hergetragen haben. Ein Bild, das uns die Illusion gegeben hat, von jemandem geliebt zu werden, der aber nur dieses Bild lieben wollte. Ein Bild, das uns kompatibel gemacht hat für die Regeln einer Arbeitswelt, in der es meist nur um Wirtschaftsinteressen geht.
Und dann stellen wir fest: Aber das BIN ich ja gar nicht. Mir fehlt so viel. Was lebe ich denn da? Manchmal passiert das schlagartig. Manchmal hat es sich als ungutes Gefühl ins Leben geschlichen und zu der Gewissheit verdichtet, dass man sturzunglücklich ist.

Und dann? Wenn ich das nicht bin, was bin ich dann? Was will ich eigentlich? Was will eigentlich ich? Man hat aufgehört, sich zu spüren. Das über ein Leben hinweg gebastelte Selbstbild bröckelt ersatzlos in sich zusammen und zurück bleibt die Frage nach eben diesem eigentlichen Selbst. Aber schon diese Frage ist trügerisch. Sämtliche jemals erzeugten Selbstbilder sind miteinander verklebt als hätte jemand Cola ausgeschüttet. Gibt es überhaupt so etwas wie ein “eigentliches Selbst”? Man lebt ja immer, IMMER sein eigenes Leben. Es fühlt sich beizeiten nicht so an. Aber die Entscheidungen, die wir treffen, treffen wir, weil wir sie in dem Moment für richtig halten. “Aber ich habe das doch nur gemacht, weil es sonst wieder Ärger gegeben hätte.” Ja ok., dann hast Du eben die Entscheidung getroffen, Ärger zu vermeiden. Wir können es leider nicht den Anderen in die Schuhe schieben.

Die gute Nachricht ist, Du hattest gute Gründe, an ein Selbstbild zu glauben, das Dich mit so wenig Ärger wie möglich durch Dein bisheriges Leben gebracht hat. Die etwas weniger entspannte Nachricht ist, dass ein Stück Arbeit vor Dir liegt, wenn Du in dieses Selbstbild nicht mehr hineinpasst. Dann nämlich solltest Du etwas in Deinem Leben verändern. Das heißt, die Komfortzone verlassen, Entscheidungen treffen, Neues wagen. Und es heißt, Du musst den Menschen, die an Dich gewöhnt sind, klar machen, dass Du Dich verändern willst oder dass Du bisher verborgene Seiten leben möchtest. Das muss nicht weiter schlimm sein, wenn Du auf Verständnis stößt und sogar Unterstützung bekommst. Wundervoll. Kann aber sein, dass das nicht so ist, dass Du auf Granit beisst, weil die Anderen keineswegs bereit sind, ihrerseits die Komfortzone zu verlassen.
Wenn Du nicht unbedingt alle Zelte und Brücken niederreissen willst, wenn Du gerne weiterhin in Beziehung zu diesen Menschen bleiben möchtest, ist guter Rat teuer. Dann braucht es etwas, das Dich unterstützt, damit Du nicht in alte Muster fällst. Du brauchst etwas, das Dich durchhalten lässt, auch wenn es mal weh tut.

Und hier schließt sich der Kreis. Du brauchst ein Bild von Deinem Selbst, das Dir den Weg leuchtet. Wenn Du Dich selbst erkennst, erkennst Du Deine Bedürfnisse und Deine Stärken. Dann weißt Du, was Du wirklich willst. Dann bist Du aber auch nicht mehr aufzuhalten. Dann triffst Du die für Dich richtigen Entscheidungen. Und dann hast Du das Vertrauen, dass die Anderen damit klarkommen werden. Wenn nicht, ist es an ihnen, sich selbst zu erkennen.